Die katholische Kirche hat in Lateinamerika im Laufe der letzten zwanzig Jahre ihre Monopolstellung verloren. Neuere religiöse Bewegungen (Freikirchen, „Pfingstler”, Sekten), die mit viel Geld und dem politischen Segen Nordamerikas kommen, haben im Gegenzug kräftig zugelegt. Wird die Sektenfrage einen Schwerpunkt bilden?
Es sind katholisch getaufte Christen, die mit der Kirche absolut nichts mehr am Hut haben. Sie werden von einem Prediger lautstark und mit viel Schwung überzeugt, dass sie ihr Heil für diese und auch die nächste Welt nur in seiner Freikirche finden. Die Menschen schließen sich diesen Kirchen an, weil sie sich dort wie in einer Familie fühlen. Genau diese Erfahrung der familiären Geborgenheit und dazu noch entscheidend mehr ist in den kirchlichen Basisgemeinden der Fall. Sie bewirkten im Gefolge von Medellin einen neuen Frühling für die Kirche in Lateinamerika. Das ist die genuin lateinamerikanische Art, Kirche zu sein. Diese kirchlichen Basisgemeinden sind durch fünf Dimensionen gekennzeichnet: Die samaritanische Dimension – wir stützen und helfen uns gegenseitig. Die prophetische Dimension – wir identifizieren, hinterfragen, prangern ungerechte Strukturen an, setzen uns für Recht und Gerechtigkeit ein. Die familiäre Dimension – wir erleben Kirche wieder als unsere Familie und nicht mehr als eine mehr oder minder anonyme Versammlung. Die feiernde, betende, kontemplative Dimension – wir finden uns tatsächlich auch geistig und geistlich vor Gott, in der Liturgie, im persönlichen Gebet bis hin zu den Formen der Kontemplation, wobei wir aus unseren eigenen Quellen schöpfen. Und die missionarische Dimension – wir übernehmen auch für andere Gemeinden Verantwortung. Ich sage, wenn wir wirklich auf diese Art Kirche zu sein bestehen und sie auch fördern, dann ist das sog. Sektenproblem hinfällig.
Papst Benedikt XVI. wird in seinem Pontifikat erstmals nach Lateinamerika reisen und bei der Eröffnung der V. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopates am 13. Mai im brasilianischen Marienheiligtum Aparecida bei Sao Paulo anwesend sein. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. besuchte Lateinamerika insgesamt 21 Mal. Dabei prangerte er stets Armut und soziale Ungleichheit an, fand gleichzeitig aber auch kritische Worte für die „Theologie der Befreiung”. Welche Erwartungen, Chancen sehen Sie im Zusammenhang mit dem Papstbesuch?
Die Art Papst Benedikts ist sicher nicht dieselbe wie die seines Vorgängers. Ich denke, dass er ein hinhörender Papst ist. Ich glaube nicht, dass er mit vielen Vorgaben kommen wird und auch nicht, dass er verurteilend auftreten wird. Ich erwarte mir, dass er einige Zeichen setzen und Denkanstöße geben wird. Seit Jahren ist hierzulande das Interesse an den aktuellen theologischen Entwicklungen in Lateinamerika abgeflaut. Die Zeiten, in denen die lateinamerikanische „Theologie der Befreiung” in aller Munde war, sind längst vorbei. Ihre Terminologie ist längst verschwunden, ja geächtet. Ich würde mir aber wünschen, dass bei dieser Konferenz ihr Ausgangspunkt und ihre biblische Verankerung zum Tragen kommen: Gott hört den Schrei seines Volkes. Gott kennt das Elend. Er steigt herab, um sein Volk zu befreien (Exodusbericht); er offenbart sich als der „Ich bin, der mit euch geht”; er zeigt sich als der, dessen Name „Emanuel – Gott mit uns” ist; er heißt Jesus, „Jehoschua – Gott befreit”, und hinterlässt die Verheißung: „Ich werde bei euch alle Tage bis ans Ende der Zeit sein.” Wir werden uns fragen müssen: Wie schaut im Jahr 2007 diese frohe Botschaft für die Völker Lateinamerikas aus? Wie können wir heute das Evangelium nicht nur verkünden, sondern auch vorleben? In Wahrheit geht es um die Verknüpfung und den Einklang von Anúncio e Testemunho (Verkündigung und Zeugnis ablegen, Anm.) – wie es im Portugiesischen heißt.
Herr Bischof, wir danken für das Gespräch.
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Bilder ©Josef Mann