Interview mit „alle welt”, Ausgabe Mai/Juni 2007

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Erwin Kräutler exklusiv: Anlässlich der 5. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas*) spricht der nach wie vor mit Mord bedrohte austro–brasilianische Missionar über die großen Themen der lateinamerikanischen Kirche im 21. Jahrhundert – Neuevangelisierung, Option für die Armen und Bewahrung der Schöpfung.

Herr Bischof, Lateinamerika wurde von Papst Johannes Paul II. als „Kontinent der Hoffnung” bezeichnet. Nach Angaben des CELAM–Präsidenten hat die Zahl der lateinamerikanischen Katholiken in den vergangenen Jahren um etwa zehn Prozent abgenommen. Steht hinter dem Motto der Generalversammlung die Absicht, die missionarische Stoßkraft der lateinamerikanischen Kirche neu zu wecken?

Ich bringe das Leitthema mit der Ansage einer „Neuevangelisierung” von Johannes Paul II. bei der 4. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas in Santo Domingo 1992 in Zusammenhang. Um die Stagnation, in der Lateinamerika steckt, überwinden zu können, braucht es einen neuen Impuls, eine neue Leidenschaft, ein neues Feuer – neue Methoden allein reichen nicht. Eben diesen neuen Geist will die Generalversammlung entfachen. Der Begriff „Missionierung” hingegen ist mit einer kolonialen Hypothek belastet. Neuevangelisierung für Lateinamerika heißt Rückbesinnung auf die Impulse, die von den Generalversammlungen in Medellin 1968 und Puebla 1979 ausgegangen sind und damals ein neues Pfingsten bewirkten. Der Alltag hat uns eingeholt, Schlüsselworte wurden als Slogans verheizt bzw. verkamen zu Gemeinplätzen.
Wie zum Beispiel „die vorrangige Option für die Armen”, die in Medellin in geradezu prophetischer Weise festgeschrieben wurde, indem man die Gesichter der Armen aufgelistet hat. Nun, die Armut hat seit damals in Lateinamerika weiter zugenommen.
Wir müssen die Gesichter der Armen neu identifizieren: die Landlosen, die kulturell Anderen wie die Indianervölker, die Obdachlosen, die Migranten, die Arbeitslosen, die Drogenabhängigen, die sexuell ausgebeuteten Frauen und Minderjährigen,... Ich frage, warum sind sie immer noch arm? Die Armut hat nicht mehr dieselben Väter wie Ende der 1960er–Jahre zu Zeiten von Medellin – natürlich gibt es auch noch die damaligen „Väter”, wie z.B. die Großgrundbesitzer. Die Armut von heute ist aber in erster Linie ein Produkt der Globalisierung. Immer mehr Arme sind von deren Vorteilen ausgeschlossen. Der ungebremste Wirtschaftsliberalismus reduziert den Menschen auf seinen Marktwert. Nehmen Sie z.B. den VW–Konzern. Der neue VW–Boss für ganz Lateinamerika, der ehemalige österreichische Bundeskanzler, Viktor Klima, hat den klaren Auftrag, den Personalstand von 12.000 Arbeitern und Angestellten auf 6.000 zu drücken. Das ist nur einer der Fälle: Brasilien ist in der Geiselhaft ausländischer Investoren. Es gibt einen Quotienten, das „Brasil–Risiko”, der gibt an, ob und wie Brasilien kreditwürdig ist. Die brasilianische Regierung kann – auch wenn sie es wollte – die Armut im eigenen Land nicht abschaffen.

Ich glaube, da müssen wir uns einfach ganz tief zurückbesinnen: Was hat „die vorrangige Option für die Armen” gewollt, die eine ganz und gar biblische ist. Im Alten Testament ist Gott immer auf der Seite der Armen und Ausgegrenzten gestanden. Und auch Jesus hat ohne Wenn und Aber für die am Rand der Gesellschaft Partei ergriffen. In Brasilien haben wir eine besondere und prophetische Zuneigung zu den „Verlierern der Globalisierung”. Aber auch wir setzen unsere Hoffnung in die Globalisierung, nämlich in die Globalisierung der Solidarität. Das wäre ein Punkt, den die Konferenz unbedingt vertiefen müsste. Amazonien wird in einem Atemzug mit dem gewissenlosen Kahlschlag der Grünen Lunge unseres Planeten genannt. Schenkt man einer neuen Studie Glauben, dann wird am Ende dieses Jahrhunderts das Amazonas–Becken in eine vertrocknete Gras–Savanne verwandelt sein. Wer kennt nicht die Fernsehspots, die darauf aufmerksam machen, dass in Amazonien alle zwei Minuten eine Fläche in der Größe eines Fußballfeldes abgebrannt oder abgeholzt wird.

Ich bin nicht unbedingt ein Berufspessimist, ich bin 41 Jahre hier und weiß, was sich bereits alles verändert hat. Ich sehe das am oberen Xingu. Immer größere Flächen werden abgeholzt, auf ihnen werden Sojabohnen für den Export gepflanzt. Eines Tages wird eine Steppe zurückbleiben. Wir hatten letztes Jahr in Amazonien die schlimmste Dürreperiode seit 40 Jahren. Wir haben die diesjährige Campagne de Fraternidade („Kampagne der Geschwisterlichkeit”) erstmals Amazonien gewidmet. Die Kirche muss endlich den Mut aufbringen, die ganze ökoproblematik in Angriff zu nehmen. Wir können nicht so tun, als ob nur andere zuständig wären. Schließlich geht es um den Glaubenssatz: „Ich glaube an Gott – den Schöpfer!” Ich spreche deshalb nicht von der ökologie, sondern von der Verantwortung für Gottes Schöpfung. Ich glaube, auch diese Probleme müssen auf der 5. Generalversammlung angesprochen werden.