Wie sehen das die Gläubigen in Ihrer Diözese und ihre Mitarbeiter/innen?
Ich lebe seit fast 42 Jahren am Xingu und habe bereits das silberne Bischofsjubiläum hinter mir. In all diesen Jahren als Priester und dann als Bischof habe ich immer erfahren dürfen, dass mich das Volk gerne mag. Diese Zuneigung und Zärtlichkeit ist in den vergangenen Monaten gerade wegen der Bedrohung ganz besonders gestiegen. Die Leute singen die Lieder, die mir besonders gefallen. Ich zelebriere in einer Kirche in Altamira und während ich den Gottesdienst eröffne, erblicke ich an der Rückwand des Kirchenraumes ein Riesentransparent: „Dom Erwin, wir lieben dich!” Dann bin ich in Porto de Moz und feiere wieder Eucharistie mit dem Volk. Kurz vor dem Schlusssegen kommt eine Frau nach vorne, nimmt das Mikrofon in die Hand und versichert mir in Namen der versammelten Gemeinde: „Lieber Dom Erwin. Wir stehen an deiner Seite. Mach dir keine Sorgen. Wir lieben dich!”
Wie stehen Sie mit Ihrem Einsatz für Menschen– und Indianerrechte, für soziale Gerechtigkeit und Umwelt innerhalb der brasilianischen Kirche da? Man sagt ja, dass diese Themen – so wie die gesamte Befreiungstheologie – immer mehr in den Hintergrund treten.
Ich bin kein Einzelgänger in der Brasilianischen Bischofskonferenz und fühle mich wirklich nicht allein auf weiter Flur. Sonst würde ich nicht gerade jetzt von Bischöfen in ganz Brasilien eingeladen, in ihren Diözesen und Universitäten über Amazonien zu referieren. Ich bin total außerstande, allen Einladungen nachzukommen. Wären die Bischöfe nicht auf meiner Seite, hätten sie mich auch nicht als einen der 22 Delegierten der Bischofskonferenz für die V Versammlung des Lateinamerikanischen Episkopats bereits an fünfter Stelle gewählt. Ich weiß, dass ich mit der Unterstützung und Solidarität der Bischöfe Brasiliens stets rechnen kann und erfahre dies in unzähligen Telefonanrufen, E–Mails, Briefen und Botschaften.
Und zur Befreiungstheologie. Ich weiß, dass in Europa immer wieder die Frage nach der Befreiungstheologie auftaucht. Ich weiß auch, dass es vor allem in den kirchlichen Medien still um die Befreiungstheologie geworden ist. Aber es ist nicht so still geworden, wie manche meinen. Vielleicht sind die vor Jahren immer wiederholten Schlagworte nicht mehr so sehr im Umlauf. Aber die Befreiungstheologie, wie ich und viele sie verstehen, wird ihren Stellenwert immer behalten, denn sie ist abgrundtief biblisch und spricht von einem Gott, der mit uns ist, mit uns geht „über sumpfiges Moor, über Ströme und lauernde Klippen, bis vorüber ist die Nacht”, wie es Kardinal John H. Newman in einem wunderbaren Gebet formuliert hat. Und weil Gott ein Gott des Lebens ist, nimmt er auch Partei für all jene, die weniger Leben haben, denen Leben verweigert, geraubt, abgesprochen wird, die in ihrem Leben gefährdet oder bedroht sind, die nach mehr Leben schreien. Lesen und meditieren wir doch den Exodusbericht, Kapitel 3! Die Option für die Armen hat hier ihre theologischen Wurzeln. Als eschatologischer Richter nimmt Jesus die Stellung der Hungernden, der Durstigen, der Nackten und Gefangenen ein. Was immer ihr diesen meinen Schwestern und Brüdern getan oder nicht getan habt, das habt ihr auch mir getan oder nicht getan, urteilt er im 25. Kapitel des Matthäus–Evangeliums. Glauben und Leben gehören also zusammen. Unser Glaube ist Antrieb dazu, die Utopie Gottes, den Traum Jesu vom Reich Gottes im Hier und Jetzt der Geschichte zu verwirklichen. Das ist Befreiungstheologie auf den Punkt gebracht.